Hier wachsen Stühle

Bäume fällen, abtransportieren, zersägen und dabei viel Holz wegschmeißen ? was für eine Verschwendung, dachte sich Gavin Munro. Er pachtete ein Feld in England und baut dort seitdem Möbel an wie andere Leute Obst.

Die Vision ist eine heimliche Fabrik. Eine, die man vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. “Wenn unsere Produktion erst einmal auf vollen Touren läuft, dann werden Sie aus der Ferne nichts anderes sehen als einen in säuberlichen Reihen gepflanzten Wald”, sagt Gavin Munro, Forst-Fabrikdirektor in der Gründungsphase.

Denn für seine Produkte benötigt er keine schweren Maschinen, um Stahl zu biegen, Kunststoff zu gießen oder Bretter zu sägen. Munro stellt Holzmöbel her, und sie wachsen nicht nur wie Bäume, sondern tatsächlich als Bäume. Munro baut Stühle, Tische, Lampen und Spiegelrahmen an wie andere Wein oder Obst.

Er formt sie aus Weiden, Eichen, Platanen, Eschen, Kirsch- und Wildapfelbäumen. Munro braucht dafür nur, was jeder Gärtner hat: Spaten, mit Plastik ummantelten Draht, Gartenscheren und, ja, grellblaue Plastikformen, die die Gestalt der späteren Möbel vorgeben.

Die Triebe seiner jungen Bäume biegt Munro mit aller Vorsicht ? “das Geräusch eines brechenden Triebes verfolgt mich im Traum” ? entlang der Plastikform, bindet sie mit dem gepolsterten Draht sanft fest, damit dieser nicht ins junge Holz schneidet. Er beobachtet das Wachstum, schneidet überzählige Triebe ab, biegt die weiterwachsenden erneut entlang der Form.

Am Ende ist ein Stuhl gewachsen, komplett mit Rückenlehne, Sitz und natürlich vier Beinen. Oder ein Tisch, ein Spiegelrahmen, ein Lampenschirm. Die Methode dauert zugegeben Jahre. “Aber: Bevor ein Weinberg den ersten Ertrag einbringt, müssen Sie auch sechs Jahre warten”, sagt Munro. Von da an aber liefert er jedes Jahr. Munro erwartet seine erste Ernte in diesem Herbst.

Der 40-Jährige ist studierter Möbeldesigner. Er wuchs im idyllischen Hügelland von Derby-shire am Rande des Peak District auf, nicht weit von dem Feld, auf dem heute seine Möbel sprießen. Die Gegend gilt als Wiege der industriellen Revolution. James Hargreaves baute hier im 18. Jahrhundert die weltweit erste mit Wasserkraft betriebene Baumwollspinnerei. In den Ruinen des ersten Industriezeitalters traf sich Munro als Teenager mit seinen Freunden.

Aber mit dem Stahl und Lärm dieses Zeitalters konnte er sich nie anfreunden. Stattdessen entwickelte er zunächst Öko-Holzhäuser, erst in Schottland, dann in Kalifornien. Als die Firma, die ihn beschäftigte, in Konkurs ging, heuerte Munro als Gärtner an und baute nebenbei Möbel aus Treibholz. Dabei kam ihm die zündende Idee: Warum einen Baum erst einmal vierzig Jahre lang wachsen lassen, ihn dann fällen, per Lastwagen abtransportieren, zersägen und am Ende nur einen Bruchteil seines Holzes für einen Stuhl verwenden?

Die herkömmliche Art, Möbel herzustellen, schien ihm eine gigantische Verschwendung von Ressourcen. Also machte sich Munro daran, die Stühle gleich in der benötigten Form wachsen zu lassen ? inspiriert vom Bonsai-Baum seiner Mutter, der in der Gestalt eines Throns gewachsen war.

Er forschte nach, ob andere es schon einmal versucht hatten. Und stieß auf den amerikanischen Banker und Bauern John Krubsack, der 1903 zwanzig Bäume pflanzte, die nach elf Jahren zu einem Stuhl herangewachsen waren. Auch der britische Künstler und Möbeldesigner Chris Cattle hatte in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts damit begonnen, Platanen-, Ahorn-, und Eschensetzlinge so heranzuziehen, dass sie Beine von Hockern formten. Doch Munro will nicht nur ein bisschen experimentieren. Sein Ziel ist die Massenproduktion.

Sein Fabrikgelände ist ein Hektar ehemaliges Grasland. In wohlgeordneten Reihen finden sich dort grellblaue Plastikformen. Um die Formen herum winden sich Zweige und Äste, grüne Triebe schießen hervor. Einige der blauen Plastikschablonen verschwinden fast vollständig im Grün, andere ragen noch nahezu nackt hervor.

3000 Bäume hat Munro auf seinem Feld angepflanzt. Es ist bereits der zweite Start. “Der erste war nicht weit von hier”, erzählt er. “2006 haben wir begonnen. Das erste Jahr lief gut, aber im zweiten Jahr kamen die Kühe.” Sie trampelten alle jungen Pflanzen nieder. Die wenigen Schösslinge, die geblieben waren, fraßen wilde Kaninchen. “Ein Anfängerfehler”, sagt Munro heute. Jetzt ist sein Feld eingezäunt.

Es sollte nicht der einzige Irrtum bleiben. Seinen ersten Stuhl ließ Munro so wachsen, wie er später auch stehen sollte: Vier Baumsetzlinge für die Beine, aus denen er dann Sitz und Lehne formte. Am Ende musste Munro jedoch feststellen, dass sich ein fünfter Baumkeimling dazwischengedrängt hatte. Das Sitzmöbel war unbrauchbar, weil die Sitzfläche fehlte. Seitdem stellt er die Stuhlschablonen auf den Kopf und lässt den gesamten Stuhl aus einem einzigen Baum wachsen. Zuerst die Lehne, später biegt Munro die Triebe zum Sitz, die Beine kommen zuletzt.

Damit er richtig in Form wächst, “verwenden wir sehr alte Techniken”, sagt Munro. Zum Beispiel die des Stockausschlags: Schneidet man bei bestimmten Baumarten den Stamm kurz über der Erde ab, so wachsen aus dem Stumpf neue Triebe. Aus ihnen entsteht die Rückenlehne eines Stuhls, der Rahmen eines Spiegels oder eine Tischplatte.

Auch die traditionelle Technik des Pfropfens nutzt er. Normalerweise verwenden sie Gärtner, um auf einen absterbenden Ast einen neuen, gesunden aufzusetzen. Munro lötet mit ihr Zweige gewissermaßen zusammen. Sehr sorgfältig müsse das Holz dafür aufgeschnitten werden, beschreibt er. Um Infektionen zu verhindern, werden unter nahezu sterilen Bedingungen die Schnittstellen zusammengefügt und verbunden, bis die beiden so vereinten Triebe zusammengewachsen sind. Das Pfropfen ersetzt Leim und Schrauben der traditionellen Möbelproduktion und macht gewachsene Möbel deutlich stabiler.

Während sich Spiegelrahmen und Lampen relativ leicht aus den Baumtrieben formen lassen, setzt die Gestaltung der Stühle und Tische eine komplizierte strategische Planung voraus: Welcher Trieb wächst an der richtigen Stelle, welche werden sich zusammenpfropfen lassen, wann ist der richtige Zeitpunkt, die jungen Zweige in die gewünschte Form zu biegen? Für die Planung verwendete er unter anderem computergestütztes Design.

Fünf Jahre dauerte es, bis Munro die Vorarbeiten abschließen konnte. 2012 pflanzte er die Möbel-Generation, deren Ernte diesen Herbst ansteht. Risikokapitalgeber hat er nicht, seine Frau Alice hilft dem Start-up auch finanziell über die Runden. Sie hat sechs Jobs, unter anderem als Deutschlehrerin und Buchhändlerin.

Aber selbst wenn die Ernte eingefahren ist, kommen die Möbel noch lange nicht in den Handel. Nach der Ernte wird das Holz trocknen müssen. Fünf bis sechs Monate rechnet Munro für die Rahmen und Lampen. Wenn mit etwas Glück auch die ersten Stühle dabei sind, müssen die sogar ein Jahr trocknen. Fertige Stühle sollen 5000 Pfund kosten, vorbestellte 2500 Pfund.

25 Vorbestellungen hat er nach eigenen Angaben bereits. 50 Stück muss er nach seiner Rechnung pro Jahr verkaufen, um auf seine Kos-ten zu kommen. Die Käufer erhalten im Gegenzug Möbelstücke mit eigenem Charakter, einmaliger Gestalt ? und nach Munros Rechnung mit nur einem Viertel des CO2-Ausstoßes herkömmlicher Modelle. (Imke Henkel) / (bsc)

Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 07/2015 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.

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