Es gäbe eine einfache Lösung im Streit um die Netzneutralität: Wer mehr Daten herunterlädt, zahlt mehr. Wer sich dagegen wehrt, muss sich nicht wundern, dass Internet-Anbieter andere Finanzierungsquellen für den Netzausbau suchen.
Als das Europaparlament Ende Oktober der neuen Verordnung zur Netzneutralität zustimmte, war die Aufregung groß. Es habe “das freie und offene Netz in Europa den Gewinninteressen einiger weniger Telekommunikationskonzerne geopfert”, klagte etwa Alexander Sander, Geschäftsführer des Vereins Digitale Gesellschaft. Aber ist das wahre Opfer wirklich das offene und freie Netz? Oder wird hier nicht eher im Namen des Gesellschaftswohls verteidigt, was nur einigen wenigen wirklich nutzt?
Bei allem Widerstand gegen die EU-Verordnung sollte man sich erinnern, worauf die Debatte im Kern zurückgeht: Um die Infrastruktur auszubauen, benötigen die Anbieter Geld. Dafür aber haben sie derzeit nicht genügend wirtschaftlichen Anreiz. Der Grund ist zum Teil selbstverschuldet. Sie haben sich im Festnetz dazu entschlossen, Flatrates für Daten anzubieten, die Preise richten sich nur nach der Übertragungsgeschwindigkeit. Wer mehr Daten überträgt, bekommt dafür nicht mehr Geld.
Die Unternehmen haben sich selbst das Bein gestellt, über das sie jetzt stürzen. Um wieder auf die Füße zu kommen, verfielen sie auf einen Trick: Firmen zur Kasse zu bitten, die Webinhalte bereitstellen ? sei es nun Google, Facebook oder Netflix. Gegen eine Gebühr sollen sie die Garantie bekommen, dass ihre Inhalte ruckelfrei durchgehen und sofort verfügbar sind. “Quality of Service” nennen Firmen wie die Telekom das Angebot.
Die Diskussion darüber besitzt zwei Aspekte, die immer wieder durcheinandergehen: die Kapazität des Netzes und seine Latenzzeit, also die Dauer bis zur Reaktion auf eine Anfrage oder einen Steuerungsbefehl. Letzteres ist ein Merkmal, das für normale Endkunden kaum relevant ist.
Ob ein Server nach einer Millisekunde oder erst nach 100 reagiert, dürfte den meisten ziemlich egal sein. Entscheidend ist die Latenzzeit jedoch für die Steuerung von Maschinen über das Internet, die Durchführung von Videokonferenzen und in Zukunft vielleicht sogar die Kontrolle von autonomen Autos. Gleichzeitig aber sind diese Dienste so speziell, dass sie sich gut vom allgemeinen Internet abkoppeln ließen. “Die Welt der Konsumenten wird sich anders entwickeln als die Industrieumgebung”, prophezeite mir kürzlich Reinhard Clemens, CEO von T-Systems. Mit dem neuen Mobilfunkstandard 5G “könnten wir beispielsweise virtuelle Netze bauen. Auf dem gleichen Mobilfunkkanal liegen dann zwei unterschiedliche Netze, eines für den Konsumenten und eines für die Industrie”.
Problematischer ist die Kapazität. Hier liegt in der Tat eine Gefahr, dass Konzerne bestimmen, welche Inhalte im Netz zu sehen sind. Sie können kleine Konkurrenten ausbremsen. “Ein Markt, der Überlastung monetarisiert, wird die derzeitige Monopolstellung der Internetgiganten verfestigen”, betont Ben Scott, Geschäftsführer der unabhängigen Denkfabrik “Stiftung neue Verantwortung”. Wachsweiche Formulierungen in der EU-Verordnung werden die Entwicklung kaum verhindern.
Ihr zufolge haben “Anbieter von Internetzugängen weiterhin die Möglichkeit, spezielle Dienste höherer Qualität, wie zum Beispiel Internetfernsehen oder neue, innovative Anwendungen, anzubieten, solange diese Dienste nicht auf Kosten und Qualität des offenen Internets erbracht werden.” Was aber sind innovative Anwendungen? Und wie bemisst sich die Qualität des offenen Internets? Die Verführung, Traffic auf teurere Spezialdienste umzuleiten, ist groß. Denn dort ist umso mehr Geld zu verdienen, je schlechter das klassische Angebot ist. Wer das verhindern will, muss einen gigantischen Regulierungsaufwand betreiben.
Dabei gäbe es eine einfachere Methode: Die Festnetznutzer nach Datenmenge zur Kassen zu bitten, wie es noch vor wenigen Jahren der Fall war. Wer Fernsehen oder Kinofilme übers Internet schaut, zahlt mehr. Wer es nicht tut, muss die anderen nicht mehr subventionieren. Im Mobilfunk sind derartige Tarife schließlich nach wie vor völlig normal. Dennoch tauchte dieser Vorschlag im jüngsten Gezerre um die Netzneutralität praktisch nie auf. Die Kunden wollen ihn nicht, die Unternehmen können ihn daher nicht durchsetzen. Als die Telekom 2013 eine Variante dieses Modells ankündigte, erhob sich ein Sturm der Entrüstung.
Der Konzern wollte die Übertragungsgeschwindigkeit nach 75 heruntergeladenen Gigabyte senken, was nach Konzernangaben gerade einmal 3,65 Prozent der Kunden betroffen hätte. Als “Drosselkom” brandmarkte ihn die Öffentlichkeit daraufhin. Freilich griff das Unternehmen zu einem unzulässigen Trick: Ihr Modell bezeichnete es weiterhin als Flatrate.
Wer sich jedoch grundsätzlich gegen dieses Modell wehrt, kann sich am Ende nicht beschweren, wenn das Geld für den Netzausbau aus anderen Quellen fließen soll. (Robert Thielicke) / (bsc)
Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 12/2015 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.
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