Moderne Fahrradtechnik hilft auch Menschen mit Handicap. Doch trotz therapeutischer Erfolge sperren sich die Krankenkassen.
Ein junger Mann mit tätowierten Armen sitzt auf einer Art Heimtrainer und tritt in die Pedale. Langsam anschwellendes Summen verrät, wie das Gerät Fahrt aufnimmt. Nach 34 Sekunden endet das unspektakuläre YouTube-Video. Erst die Untertitel offenbaren seine wahre Dimension: Ein Querschnittsgelähmter treibt hier mit eigener Muskelkraft ein Fahrrad an.
Der Radler heißt Benedikt Metzler und ist 31 Jahre alt. Vor fünf Jahren ist der österreichische Bergsteiger in eine Eislawine gekommen und 400 Meter tief abgestürzt. Mit dem Unfall verlor er die Kontrolle über seine Beine. Nun stimulieren Elektroden in einer maßgefertigten Radlerhose seine Oberschenkelmuskeln passend zur jeweiligen Pedalstellung. Rehabilitationszentren setzen das Prinzip schon länger bei stationären Trainingsmaschinen ein. Auch Metzler hatte zuvor bereits Erfahrungen damit gesammelt ? allerdings nur im Sitzen. “Das bringt nicht so viel, weil sich der Muskel weniger bewegt.”
Nun nutzt er Elektrostimulation in Verbindung mit einem sogenannten Berkel-Bike. Dessen Antrieb besteht aus einer Verbindung von Handkurbel und Fußpedalen. So werden Oberkörper und Beine gleichzeitig trainiert. Zu spüren, wie die Muskeln sich wieder anspannen, sei ein “sehr gutes Gefühl, schwer zu beschreiben”, sagt Metzler. “Dadurch habe ich einen deutlichen Muskelzuwachs an Gesäß und Beinen. So kann ich länger sitzen.” Sein Physiotherapeut sei ebenfalls begeistert.
Metzlers Trainingsgerät ist ein Beispiel dafür, wie Medizin- und Fahrradtechnik zusammenwachsen ? und dabei neue Möglichkeiten bei Therapie, Alltag und Freizeit eröffnen. Viel zu lange hatten körperlich Behinderte nur Rollstühle zur Verfügung, die weder schnell fahren noch wirklich geländetauglich sind ? und damit den Bewegungsradius der Betroffenen extrem einschränken. Zusätzlich verdammten sie Patienten allzu oft zu körperlicher Inaktivität mit entsprechenden nachteiligen Folgen für die Gesundheit. Nun jedoch eröffnen ihnen Bastler und Entwickler mit einfallsreichen Fahrradkonstruktionen neue Möglichkeiten.
Weil es in Metzlers Heimat so bergig ist und er schnelle Abfahrten liebt, nimmt er für Touren in die Umgebung lieber ein sportliches Hand-Bike mit tieferem Schwerpunkt und besseren Bremsen. Das Berkel-Bike nutzt er nur auf einer stationären Rolle. Doch andere Patienten haben damit ganz neue Freiheiten bekommen. Zum Beispiel Sepp Leinfelder, 54. Der Augsburger ist nach einem Motorradunfall teilweise gelähmt und kann sich nur noch mit Rollator oder Rollstuhl fortbewegen. Für ihn ist das Dreirad vor allem ein Sportgerät. “Wenn man regelmäßig trainiert, ist man damit schon mal so schnell wie ein Rennradfahrer.” Gleichzeitig habe sich die Beweglichkeit seiner Beine deutlich verbessert.
Oder Arnold Weisser, 60, aus Königsfeld im Schwarzwald. Sein rechtes Bein funktioniert noch zu 70 bis 80 Prozent. Wenn ihm jemand beim Auf- und Absteigen half, konnte er zwar noch Fahrrad fahren, aber das wurde ihm irgendwann zu gefährlich. Also ließ er es für einige Jahre ganz sein ? bis er im Internet auf das Berkel-Bike stieß. Das linke Bein wird festgeschnallt, das rechte tritt mit, den Rest erledigen die Arme. Später ließ er einen Elektromotor nachrüsten. Nun dreht er Runden von bis zu 40 Kilometern durch den Schwarzwald, bergauf und bergab. Im Italien-Urlaub ist er mit seinem Bike auch schon am Meer entlanggerollt.
Gert Wiedemann kann viele Geschichten dieser Art erzählen. Aus einem Umkreis von 250 Kilometern kommen Kunden zu ihm, um Spezialräder auszuprobieren und anpassen zu lassen. Sein Keller in einem Industriegebiet bei Göppingen beherbergt einen ganzen Zoo an Reha-Rädern. Sportliche E-Mountainbikes stehen dort neben diversen Trikes, Rollstühle mit Hilfsantrieb neben Parallel-Tandems. Der Flur dient als Teststrecke. Seine Kunden haben multiple Sklerose oder Querschnittslähmung, oder leiden unter den Folgen einer Polio-Infektion oder eines Schlaganfalls.
Mit einem Produkt von der Stange ist kaum jemandem geholfen. Für die Anpassung vergeht schnell ein halber Vormittag. Mal müssen spezielle Pedale montiert werden, mal die Stützen für die Unterschenkel, mal ein Elektroantrieb. “Ich bin nicht der Daniel Düsentrieb, der alles neu erfindet, sondern eher der Netzwerker, der alle zusammenbringt”, beschreibt Wiedemann seine Rolle.
Wobei das mit dem Daniel Düsentrieb nur zum Teil stimmt. Wiedemann hat als selbstständiger Ingenieur jahrelang für die Autoindustrie gearbeitet, mit einer selbst entwickelten Messeinrichtung für Motoren. Später erfand er einen Brenner für Glasbläser, der ohne Sauerstoffflasche auskam. Damit konnten Glaskünstler erstmals auch in ihrer Wohnung statt in einer Werkstatt arbeiten. Als er einen Händler für Nachrüst-Elektromotoren kennenlernte, widmete er sich fortan der Elektrifizierung von Mountainbikes.
Einer seiner Kunden war ein junger Mann mit Herzproblemen. Er suchte nicht nur ein Fortbewegungsmittel für sich, sondern auch für seine Frau, die unter multipler Sklerose leidet. Fündig wurde Wiedemann beim Dreirad “Easy Rider”, das er mit einem Pedelec-Antrieb ausrüstete. “Dadurch hat sie einen ganz neuen Bewegungsradius gewonnen”, sagt Wiedemann. Außerdem führe die regelmäßige Bewegung dazu, dass die Patienten wieder besser zu Fuß seien. Das sprach sich unter den gut vernetzten Betroffenen herum. “Heute ist das Easy Rider unser Brot-und-Butter-Geschäft”, sagt Wiedemann.
Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 06/2016 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.
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