Was wäre, wenn wir kein Bargeld mehr hätten?
Niemand hat die Absicht, Bargeld abzuschaffen?, tönte das Bundesfinanzministerium noch Mitte 2016. Das war, im Rückblick betrachtet, ziemlich gewagt. Natürlich hatten jede Menge Leute solche Absichten: Der Handel betrachtete das Herumkarren von Geldkassetten schon lange als unnötigen Kostenfaktor. Die Europäische Zentralbank würde gern negative Zinsen erlassen, fürchtete aber eine Massenflucht ins Bargeld. Die Geheimdienste träumten davon, sämtliche Geldströme bis zum letzten Kaugummikauf nachverfolgen zu können. Und dem Fiskus galt Bargeld vor allem als Einfallstor für Geldwäsche und Schwarzarbeit.
Und die Bürger? Ihre Liebe zu Münzen und Scheinen erwies sich als überraschend flüchtig. Als sich die deutschen Händler darauf einigten, alle Beträge wie in den Niederlanden auf fünf Cent zu runden, machten die Kunden bereitwillig mit. Die ganzen krummen Zahlen hatten sie sowieso genervt. Ein- und Zwei-Cent-Münzen gerieten schnell in Vergessenheit.
Danach ging es dem 500-Euro-Schein an den Kragen. 2020 legte die EZB stillschweigend keine neue Serie mehr auf. Der Bedarf war ohnehin gering, weil die Regierung 2017 Barzahlungen über 5000 Euro verboten hatte. Leute, die Bargeld als Bastion persönlicher Freiheit verteidigten, zogen eine Zeit lang durch die Talkshows, wo sie sehr überzeugend die anachronistischen Freaks gaben. Doch die breite Mehrheit hatte andere Sorgen. Zum Beispiel, wo sie überhaupt 5000 Euro hernehmen sollte.
Der letzte Sargnagel war schließlich das Gerücht, Papierscheine könnten tödliche Erreger übertragen. Nicht ganz uneigennützig brachte die EZB einen Schnelltest in Umlauf, der praktisch alle Banknoten tief braun färbte. Dass diese Bakterien harmlos waren und schließlich noch nie jemand von schmuddeligem Geld dahingerafft worden war, dieses Argument drang kaum in die Köpfe vor. Bargeld war plötzlich einfach verpönt.
So verschwand es schleichend, ohne jemals formal abgeschafft worden zu sein. Im 2022 eröffneten Flughafen Berlin-Brandenburg gab es beispielsweise weit und breit keine einzige Kasse mehr. Die meisten zahlten stattdessen mit dem Smartphone. Für Bettler gab es sogar eine eigene App mit Münzgeklingel.
Abgewickelt wurden die Transfers über einen Funkchip. Er wurde von der EU als gesetzliches Zahlungsmittel eingeführt und musste überall gebührenfrei akzeptiert werden: im Internet, am Kiosk, beim Bäcker.
Der Chip war, beteuerten Regierungsvertreter, völlig anonym. Er enthielt lediglich eine Identifikationsnummer. Diese mit einem realen Namen zu verknüpfen war natürlich verboten. Es sei denn, man hatte eine Sondergenehmigung dafür. Und die bekam praktisch jeder, der in ein paar schlichten Sätzen begründen konnte, warum das für sein Geschäft nötig, hilfreich oder wünschenswert sei. So kam es, dass Supermarkt-Kassiererin-nen manchen Kunden sagen mussten: ?Tut mir leid, aber Ihre Krankenkasse hat einen Sperrauftrag für Alkoholika erwirkt.?
Die meisten braven Bürger freuten sich hingegen, dass sie am Ende des Monats bis zu 25 Prozent ihres Krankenkassenbeitrags einsparen konnten, wenn sie ?gesundheitsbewusst? einkauften. Wer sich nicht darum scherte, musste natürlich mit Risikoaufschlägen rechnen. Aber das war vielen egal, denn das Geld musste ohnehin weg, denn sonst fraßen es die Negativzinsen auf.
So stürzten sich die Europäer in einen beispielslosen Konsumrausch, der erst abebbte, als auch die letzte Wand der letzten Wohnung mit 50-Zoll-Monitoren bedeckt war. Diese enthielten so viele seltene Erden ? deren Preis durch die gestiegene Nachfrage durch die Decke gegangen war ?, dass sie schon durch ihren reinen Materialwert als stabile Geldanlage taugten. (Ove Lommack, Gregor Honsel) / (bsc)
Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 03/2016 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.
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