Der Futurist: Darth Vader unter Leuten

Was wäre, wenn wir fahrbare Avatare hätten?

Linda und Harald waren eigentlich nie große Apple-Jünger. Doch an diesem Weihnachtsabend lagen nur Produkte mit dem angebissenen Apfel auf dem Gabentisch. Der von vielen schon abgeschriebene Konzern hatte noch mal ein großes Ding rausgehauen. Es sah aus wie ein geschrumpfter Segway ? daran ein Teleskopausleger mit einem Kopf aus Lautsprecher-Mund, zwei beweglichen Kamera-Augen sowie einem Paar ebenfalls beweglicher Mikrofon-Ohren. Schon viele Hersteller hatten sich an solchen Telepräsenzrobotern versucht, doch erst Apple schaffte es, sie wirklich cool zu machen.

Tiefenkameras und Bewegungssensoren übertrugen Mimik, Kopf- und Augenbewegungen des Besitzers auf den Bot. Das funktionierte zwar nur rudimentär, reichte aber aus, um ihnen etwas hinreichend Menschliches zu verleihen. Zudem ließ sich das “Gesicht” des Bots über verschiedene Schalen (“Skins”) individualisieren. Linda und Harald entschieden sich für eher schlichte Varianten aus dem 3D-Drucker, die den Proportionen ihrer eigenen Gesichter entsprachen. Die fünfjährige Tochter Lisa wollte unbedingt ein rosafarbenes Einhorn, ihr elfjähriger Bruder Sven eine Darth-Vader-Maske. Fortan rollte die Familie gemeinsam zum Schaufensterbummel durch die Fußgängerzone, ohne dass einer von ihnen das eigene Zimmer verlassen musste.

Doch schnell stellten sie fest, dass der Bot nie da ist, wo man ihn braucht. Also schafften sie sich nach und nach eine ganze Armada an: einen rollenden Avatar für den Handballverein, wenn Harald keine Zeit zum Training hatte, aber doch irgendwie dabei sein wollte; einer für die Kita, falls Lisa sich einsam fühlen sollte; einen für die Schule, um einen Blick auf Sven zu halten; einen fürs Büro, um während der Homeoffice-Tage Kontakt zu den Kollegen zu halten. Opa und Oma bekamen auch einen geschenkt. Ach ja, und dann war da noch der geländegängige Gassi-Bot für den Hund mit integrierter Hundepfeife und Futterspender.

Binnen Kurzem zählten die Städte mehr Telepräsenzroboter als Einwohner. Wohin mit ihnen? Einerseits verbot die Etikette, fremde Bots einfach anzufassen und wegzuschieben. Andererseits standen sie oft im Weg, und niemand wusste, ob und wann sie aktiv waren. Eigentlich sollten rote Lämpchen das klar signalisieren, aber die verschwanden gern unter Batman-Helmen oder Teddybär-Fellen.

Um der Plage Herr zu werden, schufen die ersten Restaurants und Shopping-Center Bot-freie Zonen. Sie waren nur über eine Art Viehgitter zu betreten, in dem die Rollen der Roboter hängen bleiben. Die dermaßen ausgebremsten Geräte mischten sich vor den Eingängen unter die Raucher. “Rauchst du?” wurde zur etwas abgedroschenen, aber immer wieder funktionierenden Anmache. So nahm manche hoffnungsvolle Beziehung ihren Anfang ? und schnell wieder ein Ende, wenn sich herausstellte, dass der Bot doch keiner Frau in Partystimmung gehörte, sondern einem Elfjährigen, der heimlich auf virtueller Kneipentour war. (Gregor Honsel) / (bsc)

Dieser Text ist der Zeitschriften-Ausgabe 01/2016 von Technology Review entnommen. Das Heft kann, genauso wie die aktuelle Ausgabe, hier online bestellt werden.

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